German American Law Journal :: Articles Edition
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Vertragserfüllung in den USA
Substantial Performance - Specific Performance


von Marc Sippel *
Erstveröffentlichung: 28. September 2015


Im deutschen wie im amerikanischen Recht ist die Frage, ob eine Partei ihre Pflichten aus einem Vertrag erfüllt hat, in vielerlei Hinsicht bedeutsam, insbesondere für die Gegenleistungspflicht der anderen Partei und die Geltendmachung von Sekundäransprüchen. In den USA bestimmt sich das Vertragsrecht weitestgehend nach dem Common Law (Ausnahme: Louisiana), wobei von Bundesstaat zu Bundesstaat Unterschiede bestehen und insbesondere durch vereinzelte Kodi­fika­tio­nen Abweichungen hiervon getroffen wurden. Dennoch bestehen übergreifende Grundsätze, so auch in der Frage der Vertrags­erfüllung.

I. Common Law: Substantial Performance

Eine Partei eines Vertrages ist nach den Grundsätzen des Common Law zur Gegenleistung verpflichtet, wenn die andere Partei ihre Ver­tragspflichten "im Wesentlichen" erfüllt hat, sogenannte substantial Performance. Die Überlegung dahinter ist, dass es, obwohl eine Ver­trags­verletzung vorliegt, unbillig wäre, die Gegenleistung von einer vollständigen Vertragserfüllung abhängig zu machen, wenn die Leistung im Wesentlichen erbracht wurde und nur geringfügige, unbedeutende Abweichungen von der vertraglichen Vereinbarung bestehen. Das Gegenstück dazu bildet der material Breach, also eine wesentliche Vertragsverletzung. Liegt keine substantial Performance, sondern ein material Breach vor, so wird die Gegenleistung nicht fällig.

Die Frage, wann eine Vertragsverletzung wesentlich ist, kann nicht allgemein, sondern nur anhand des Einzelfalls beantwortet werden. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass je mehr die Schlecht­leis­tung den Zweck des Vertrages und die Erwartungen der vertrags­treuen Partei beeinträchtigt, desto eher man sie als wesentlich einstufen wird. Bei der Beurteilung sind insbesondere folgende Umstände zu berücksichtigen1:

- in welchem Ausmaß der geschädigten Partei der Nutzen des Rechts­geschäfts vorenthalten wird, den sie vernünftigerweise erwarten durfte
- inwieweit die geschädigte Partei für diesen Verlust angemessen entschädigt werden kann
- inwiefern die vertragsbrüchige Partei selbst einen Verlust erleidet
- ob die vertragsbrüchige Partei voraussichtlich Nacherfüllung leisten wird
- ob die vertragsbrüchige Partei bösgläubig oder treuwidrig gehandelt hat

Um Streitigkeiten zu vermeiden, kann bereits im Vertrag festgelegt werden, dass bestimmte Vertragsverletzungen als wesentlich anzu­sehen sind.

Auch eine verspätete Leistung (Delay in Performance) stellt einen Vertragsbruch dar und kann als solcher wesentlich sein. Dies ist der Fall, wenn sich bereits aus dem Vertrag ergibt, dass die Leistung zum vereinbarten Zeitpunkt von entscheidender Bedeutung für die Gegen­seite ist, üblicherweise durch Aufnahme der Formulierung Time is of the Essence. Fehlt eine solche Klausel, ist durch Auslegung unter Berücksichtigung der oben genannten Kriterien zu ermitteln, ob die Leistung nach dem vereinbarten Zeitpunkt eine wesentliche Vertrags­verletzung ist. Bei nur geringfügiger Verspätung wird dies in der Regel zu verneinen sein. Ist kein Leistungszeitpunkt bestimmt, muss die Leistung dennoch innerhalb angemessener Zeit erbracht werden und ist nach diesem durch Auslegung zu bestimmenden Zeitpunkt ver­spätet.

II. Sekundäransprüche bei substantial Performance

Ist die Vertragsverletzung nicht wesentlich (minor/partial Breach), so darf die Gegenleistung zwar nicht verweigert werden, die andere Partei hat jedoch dennoch einen Anspruch auf Schadenersatz (Damages) aufgrund der Minderleistung, mit dem sie gegebenenfalls auch gegen den Gegenleistungsanspruch der vertrags­brüchigen Partei aufrechnen kann.

Die Höhe des Schadenersatzanspruchs bestimmt sich in erster Linie nach den Kosten der "Vervollständigung" der Leistung. Die vertrags­brüchige Partei hat der anderen Partei also beispielsweise die Kosten der Mängelbeseitigung oder, im Falle von Werkleistungen, der Beauf­tragung eines anderen Unternehmers zur Fertigstellung zu bezahlen.

Falls diese Kosten jedoch unverhältnismäßig hoch sind, ist nur die Wertminderung aufgrund der Minderleistung zu ersetzen. Wären die Reparaturkosten also deutlich höher als der daraus resultierende Wertzuwachs, berechnet sich der Schadenersatz nach der Differenz zwischen dem Wert der vereinbarten mangelfreien Leistung und dem Wert der tatsächlich erhaltenen mangelhaften Leistung.

Die Feststellung, ob ein material Breach vorliegt, ist also insofern von Bedeutung, als die andere Partei dann nicht nur Schadenersatz ver­langen kann, sondern auch von ihrer Gegenleistungspflicht (vorüber­gehend bis zur Nacherfüllung oder dauerhaft) befreit wird.

Ebenso hat die Partei, die ihre Vertragspflichten im Wesentlichen, wenn auch nicht vollständig, erfüllt hat, einen Schadenersatzanspruch gegen die andere Partei, wenn diese die Gegenleistung verweigert. Der zu ersetzende Schaden deckt sich mit der vertraglich verein­barten Vergütung abzüglich des Schadenersatzanspruchs der anderen Partei.

III. UCC: Perfect Tender Rule

Das bisher Gesagte gilt vor allem für Werk-, Dienst- und Arbeits­verträge. Der Grundsatz der substantial Performance findet jedoch nicht auf alle Verträge Anwendung.

Zum einen gilt er nicht, wenn die Parteien ausdrücklich vereinbart ha­ben, dass nur eine vollständige Vertragserfüllung (strict/full/complete Performance) den Anspruch auf die Gegenleistung auslöst und eine solche Vereinbarung den Umständen nach auch angemes­sen ist. Darauf wird sich gerade bei komplexen Verträgen kaum jemand einlassen.

Zum anderen ist für Kaufverträge über bewegliche Sachen der Uni­form Commercial Code2 zu beachten. Für die Vertragserfüllung gilt hiernach die sogenannte perfect Tender Rule. Nach dieser kann der Käufer den Kaufgegenstand ohne Verpflichtung zur Gegenleistung zurückweisen, wenn er auch nur geringfügig (in any respect) von der vertraglichen Vereinbarung abweicht, sei es in Qualität, Quantität oder Art und Weise der Lieferung, siehe UCC §2-601.

Von dieser Regel gibt es Ausnahmen:

1. Weist der Käufer den Kaufgegenstand wegen Mangelhaftigkeit zurück, ist die Leistung aber noch nicht verspätet, hat der Verkäufer nach entsprechender Ankündigung gegenüber dem Käufer ein "Recht zur zweiten Andienung" (Cure of improper Tender) innerhalb der vertraglichen Leistungszeit, UCC §2-508 (1).

2. Ebenso besteht unabhängig vom Leistungszeitpunkt ein Nach­erfül­lungsrecht (innerhalb angemessener Zeit), wenn der Verkäufer ver­nünf­tigerweise davon ausgehen durfte, dass sein Leistungsangebot (ggf. zuzüglich einer Ausgleichszahlung) vom Käufer akzeptiert werden würde, UCC §2-508 (2).

Hiervon ist zum Beispiel der Fall erfasst, dass der Verkäufer eine andere, jedoch objektiv bessere Sache als vereinbart liefert. Der Käufer kann die Sache zurückweisen und auf Lieferung des verein­barten Gegenstands bestehen; der Verkäufer durfte jedoch davon ausgehen, dass der Käufer auch mit der besseren Sache einver­standen sein wird.

3. Eine weitere Besonderheit gilt bei Ratenlieferungen (Installment Contract). Hier kann der Käufer eine einzelne Teillieferung trotz Mangelhaftigkeit nicht zurückweisen, wenn die mangelhafte Teil­lieferung nicht den Vertrag als Ganzes wesentlich beeinträchtigt, der Mangel behoben werden kann und der Verkäufer die Nacherfüllung auch hinreichend zusichert, siehe UCC §2-612.

Alternativ kann der Käufer die Leistung auch ganz oder teilweise akzeptieren. Nach ausdrücklicher oder konkludenter Annahme der Leistung als vertragsgemäß ist eine Zurückweisung grundsätzlich nicht mehr möglich. Ein Widerruf einer einmal erklärten Annahme ist nur ausnahmsweise zulässig.

Abschließend bleibt noch anzumerken, dass die Gerichte die Vor­schrift des UCC §2-601 nicht so streng auslegen wie es der Wortlaut nahe­legt. Überwiegend wird auch hier eine Zurückweisung der mangel­haften Leistung nur zugelassen, wenn der Mangel erheblich ist, sodass der Unterschied zum Grundsatz der substantial Perfor­mance im Ergebnis verschwindend gering ist.

IV. Vergleich zum deutschen Recht

Auch im BGB spielt die Wesentlichkeit bzw. Erheblich­keit der Pflicht­verletzung eine Rolle. Zum einen kann die Gegenleistung bei Teil­leistung aus einem gegenseitigen Vertrag gem. §320 Abs. 2 BGB insoweit nicht verweigert werden, als die Verweigerung wegen ver­hältnis­mäßiger Gering­fügigkeit des rück­ständigen Teils gegen Treu und Glauben verstoßen würde. Zum anderen sind Rücktritt vom Ver­trag sowie Schadenersatz statt der ganzen Leistung ausgeschlos­sen, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist, §323 Abs. 5 S. 2 bzw. § 281 Abs. 1 S. 3 BGB. Die Erheblichkeitsprüfung erfordert eine umfassende Interessenabwägung, bei der vor allem der für die Mängelbeseitigung erforderliche Aufwand und bei einem nicht behebbaren Mangel die von ihm ausgehende funktionelle und ästhetische Beeinträchtigung zu berücksichtigen sind. Aber auch die Schwere des Verschuldens des Schuldners ist von Bedeutung, wobei bei Arglist eine unerhebliche Pflichtverletzung in der Regel zu verneinen ist. Eine Verzögerung der Leistung wird üblicherweise über die Fristsetzung bzw. deren Entbehr­lichkeit gelöst, §281 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, §323 Abs. 1 u. 2 BGB.

V. Erfüllungsanspruch - specific Performance

Der entscheidende Unterschied im amerikanischen Recht ist, dass der Gläubiger die geschuldete Leistung an sich grundsätzlich nicht einkla­gen kann. Das Common Law sieht als Abhilfe für eine nicht vertrags­gemäße Erfüllung ausschließlich Schadenersatz vor.

Das gilt auch, wenn die Vergütung nicht vereinbarungsgemäß er­bracht wird (auch wenn dies im Ergebnis natürlich keinen Unterschied macht, siehe oben II.). Die Gefahr einer solchen Schadenersatzklage genügt für gewöhnlich, um den Vertragspartner auch ohne durchsetz­baren Erfüllungsanspruch zur ordnungsgemäßen Leistungserbringung anzu­halten.

Nur ausnahmsweise darf ein Gericht den Schuldner nach dem Billig­keitsrecht (Equity) zur Vertragserfüllung verurteilen (specific Perfor­mance). Voraussetzung hierfür ist, dass unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine Geldleistung den Nachteil des Klägers nicht oder nur unzureichend kompensieren würde.

Dies ist vor allem der Fall, wenn die Berechnung des Schadens nicht oder nur schwer möglich ist oder wenn ein bestimmtes Grundstück oder ganz einzigartige Gegenstände wie Antiquitäten oder ein Kunst­werk geschuldet sind. Bei gewöhnlichen Gütern, die leicht ander­weitig beschafft werden können, sind Geldersatzleistungen dagegen ein ge­eig­netes Mittel, um den Schaden in Form von Mehrkosten des Klä­gers auszugleichen. (Dienst-) Handlungen werden ebenso in der Regel nicht durch Verurteilung zur Vertragserfüllung erzwungen. Das hängt allerdings auch damit zusammen, dass dies einer Zwangsarbeit (invo­luntary Servitude) gleichkommen würde, die durch den 13. Zusatz­artikel zur Verfassung zusammen mit der Sklaverei verboten wurde (der vergleichbare Artikel 12 Abs. 2, 3 des deutschen Grund­gesetzes wird freilich anders interpretiert). Anders ist dies bei Unterlassungs­ver­pflichtungen, insbesondere Wettbewerbs­verboten.

Eine weitere wichtige Voraussetzung für einen Anspruch auf specific Performance ist, dass die nach dem Vertrag geschuldete Leistung hinreichend bestimmt ist. Das Gericht überwacht die angeordnete Erfüllung und kann den Beklagten hierzu auch in Zwangshaft nehmen. Dies ist nicht möglich, wenn nicht klar ist, was nach den Bedingungen des Vertrages genau geschuldet ist. Gerade bei Bauverträgen stellt sich zudem das Problem, dass dem Gericht in der Regel die Fach­kenntnisse und Möglichkeiten fehlen, um spezifische Leistungen anzuordnen und wirksam zu überwachen. Selbst wenn dies möglich ist, stellen Damages üblicherweise ein probates Mittel dar, um dem Kläger den Schaden zu ersetzen, der ihm durch Beauftragung eines anderen Unternehmers zur Reparatur bzw. Fertigstellung entsteht.

Für Kaufverträge ist der Anspruch auf specific Performance in UCC §2-716 geregelt.

VI. Fazit

Sowohl im deutschen wie auch im US-amerikanischen Recht ist die Wesent­lichkeit einer Pflicht­verletzung für Fragen der Vertrags­erfüllung von Bedeutung. Die teils vergleichbaren, teils unterschied­lichen Maß­stäbe zur Beurteilung der Wesent­lichkeit werden meist zu iden­tischen Ergebnissen führen. In den USA werden Vertrags­verstöße (unerheb­liche wie erhebliche) allerdings vorrangig finanziell mittels Schaden­ersatz ausgeglichen, während Erfüllungsansprüche die Ausnahme sind.


Fußnoten:

1 Siehe Restatement (Second) of Contracts §241. Hierbei handelt es sich um eine nicht-offizielle, nicht-bindende, jedoch viel zitierte Zusammenfassung der Grundsätze des Common Law Vertragsrechts, die vom American Law Institute herausgegeben wird.
2 Dabei handelt es sich um ein Modellgesetz, das von den Einzel­staaten wortgleich oder leicht modifiziert umgesetzt wurde und teilweise Abweichungen vom Common Law enthält.

*   Marc Sippel, der Verfasser, ist Rechtsreferendar im Oberlandes­gerichtsbezirk Nürnberg. Zuvor hatte er Rechtswissenschaften mit wirt­schafts­wissen­schaftlicher Zusatzausbildung an der Universität Bayreuth studiert. Dieser Bericht entstand während seines Aufenthalts in Washington, D.C., wo er bei Berliner, Corcoran & Rowe, LLP unter der Leitung des deutsch-amerikanischen Rechtsanwalts Clemens Kochinke, Attorney at Law, die dreimonatige Wahlstation seines Rechtsreferendariats absolvierte.